Es gibt keine Botschaften in diesen Geschichten. Es sind
keine Glückskekse, es sind Geschichten. Mit diesen Worten
beginnt die amerikanische Schriftstellerin Ursula K. Le Guin die
Vorbemerkung zu den Kurzgeschichten ihrer Storysammlung
Ein
Fischer des Binnenmeeres. Möglicherweise hat eine gewisse
Bescheidenheit sie zu dieser Bemerkung veranlaßt, möglicherweise
ist es eine bewußte Koketterie mit dem
Understatement,
vielleicht war sie es aber auch einfach nur leid, immer wieder
mit Fragen konfrontiert zu werden, welche Aussagen sie mit ihren
Storys und Romanen nun eigentlich genau macht. Denn daß ihre Geschichten
ohne Botschaften sind, stimmt definitiv nicht. Wahr ist, man kann
Le Guins Texte durchaus als unterhaltsame Oberflächenlektüre
lesen und findet jedesmal unweigerlich die stimmungsvollen Schilderungen
einer sorgfältigen, oft akribischen Autorin, deren bedächtiger
Stil mehr dem Realismus des neunzehnten Jahrhunderts entlehnt
zu sein scheint, als der literarischen Postmoderne des zwanzigsten
Jahrhunderts. Wahr ist auch, daß es selten klare und
eindeutige Botschaften oder Positionen in Le Guins Geschichten gibt. In ihren
besten Werken wägt sie verschiedene Standpunkte gegeneinander
ab und sucht meist, dem taoistischen Prinzip folgend, das viele
ihrer Erzählungen und Romane prägt, nach einem Zustand der Balance
zwischen Extremen, nach dem Gleichgewicht von
yin und
yang.
Viele Geschichten Le Guins sind Gleichnisse, politische oder gesellschaftliche
Parabeln, die man, wie gesagt, allerdings nicht unbedingt als
solche lesen muß. Macht man sich allerdings die Mühe, unter die
polierte Oberfläche bloßer Erzähl-Literatur zu tauchen, findet
man ein an Aussagen fast überbordendes Werk, das einen breiten
Bogen von der Science Fiction über die Fantasy bis hin zum Realismus
spannt.
Ursula Kroeber Le Guin wurde am 21. Oktober 1929 in Berkeley,
Kalifornien, geboren - als Tochter des Anthropologen Alfred L.
Kroeber und der Schriftstellerin Theodora K. Kroeber. Kindheit
und Jugend im Akademikermilieu der Universitätsstadt haben sie
als Schriftstellerin ebenso sehr geprägt wie der frühe Kontakt
mit Mythen und Sagen der indianischen Ureinwohner, der das Interesse
für Anthropologie geweckt haben dürfte. Zu schreiben begann Ursula
K. Le Guin schon 1951. Sie verfaßte fünf realistische, in einem
Phantasiestaat in Mitteleuropa angesiedelte Romane, für die sie
keinen Verleger fand (man geht davon aus, daß diese Romane in
umgearbeiteter Form später zu dem Zyklus von Erzählungen wurden,
die 1976 gesammelt unter dem Titel
Orsinian Tales (dt:
Geschichten aus Orsinien) erschienen, sowie dem Roman
Malafrena (1979; dt:
Malafrena), die in dem fiktiven europäischen
Staat Orsinien spielen). Anfang der sechziger Jahre wandte sie
sich erstmals der Phantastik zu und schrieb anfänglich nur notdürftig
als SF kaschierte Fantasy-Erzählungen.
Im eingangs zitierten Vorwort der Story-Sammlung
A Fisherman
of the Inland Sea (dt:
Ein Fischer des Binnenmeeres)
macht die Autorin deutlich, weshalb sie sich zur Science Fiction
hingezogen fühlt: Was ich an und in der Science Fiction
schätze, schließt folgende Vorzüge ein: Vitalität, Größe und exakte
Phantasie; Verspieltheit, Vielfalt und ausdrucksvolle Metaphern;
Freiheit von konventionellen literarischen Erwartungen und Manierismen;
moralische Ernsthaftigkeit; Geist; Verve; und Schönheit.
Le Guins Neigung zur Science Fiction mag entgegenkommen, daß die
SF im Gegensatz zur landläufigen Meinung keine experimentierfreudige
Literatur grenzenloser Freiheit des Ausdrucks, sondern tief in
ihrem Herzen eine konventionelle, allen Spielarten der Phantasie
zum Trotz realistische Literatur insofern ist, als sie sich stets
bemüht, die geschilderten Schauplätze und Ereignisse durch eine
möglichst realistische Schilderung so plastisch und glaubwürdig
wie möglich zu machen. Ein experimenteller und avantgardistischer
Stil, wie ihn beispielsweise die surrealen Phantasien eines John
Barth kennzeichnen, würde die geschilderte imaginäre Welt sofort
als bloßes literarisches Konstrukt entlarven.
Ursula Le Guins Science Fiction besteht in der Mehrheit aus dem
Hainish-Zyklus, der einen gemeinsamen Hintergrund
für die Romane und Kurzgeschichten bildet und von folgender Prämisse
ausgeht: Vor langer Zeit haben die Bewohner des Planeten Hain
die Planeten in unserem Teil der Galaxie besiedelt, auf denen
Leben möglich ist; auf diesen Welten haben sich im Lauf der Jahre
eigenständige Kulturen entwickelt, die die Autorin mit ihrem anthropologischen
Hintergrund stets faszinierend darzustellen weiß. Der gesamte
Zyklus beginnt etwa dreihundert bis vierhundert Jahre nach unserer
Zeit und umfaßt einen Zeitraum von rund zweieinhalbtausend Jahren.
Le Guins erste veröffentlichte Romane sind in der internen Chronologie
des Zyklus spät angesiedelt:
Rocannons World (1966,
revidierte Fassung 1977; dt:
Rocannons Welt) Planet of
Exile (1966; dt:
Das zehnte Jahr) und
City of Illusions (1967; dt:
Stadt der Illusionen). In
Rocannons
World strandet der Ethnologe Rocannon als einziger Überlebender
einer Expedition auf dem Planeten Fomalhaut II, dessen friedfertige
Bewohner hilflos den Angriffen brutaler Rebellen ausgeliefert
sind. Rocannon beschließt, den Bewohnern zu helfen, das Joch der
Unterdrückung abzustreifen; als er sich der fremden Kultur des
Planeten ganz öffnet, erhält er dafür die Gabe der Gedankensprache
oder Telepathie. Mehr als tausend Jahre interner Zeitrechnung
sind vergangen, als die Handlung von
Planet of Exile einsetzt.
Die Gedankensprache ist längst Allgemeingut geworden,
doch die menschlichen Siedler auf Eltanin, dem dritten Planeten
von Gamma Draconis, verlieren bereits die Kontrolle über die Fähigkeit.
Die Menschen verabscheuen die Eingeborenen des Planeten zutiefst,
müssen aber unter dem Druck der Ereignisse lernen, miteinander
zu leben.
City of Illusions ist eine direkte Fortsetzung,
und schildert die Erlebnisse des jungen Mannes Falk, der ohne
Gedächtnis auf einer Waldlichtung in einem verwüsteten Amerika
der Zukunft erwacht. Die Erde ist von den außerirdischen Shing
besetzt, die als einzige die Fähigkeit der Gedankenlüge
besitzen. Als Falk die Hauptstadt der Shing erreicht, stellt er
fest, daß die Außerirdischen schon lange nach ihm suchen. Er stammt
von einem fernen Planeten, dessen Lage die Shing um jeden Preis
erfahren wollen, um ihn zu zerstören. Die Shing stellen Falks
ursprüngliche Persönlichkeit wieder her, ein Prozeß, bei dem seine
Identität als Falk eigentlich verlorengehen müßte. Aber Falk,
der in Wahrheit Remarren heißt, gelingt es durch reine Willenskraft,
beide Identitäten zu erhalten. Er besiegt die Shing und bricht
auf, um seinen Heimatplaneten zu warnen, bei dem es sich um keinen
anderen als Gamma Draconis III handelt.
Folgt man der Prämisse, wonach die Science Fiction in erster Linie
eine seismische Literatur ist, die im Gewand der Verfremdung
tatsächliche Entwicklungen und Zeitströmungen kommentiert, ist
Rocannons World zu allererst einmal eine Parabel
auf den Vietnamkrieg. Die Studentenunruhen in ihrer Heimatstadt
Berkeley Ende der sechziger Jahre haben einen nicht unerheblichen
Einfluß auf Le Guins frühe Werke ausgeübt. Die Sehnsucht nach
politischen und gesellschaftlichen Veränderungen und Kritik an
den herrschenden Zuständen findet immer wieder Ausdruck; die Realisierung
einer Utopie wird herbeigesehnt, doch als sie schließlich verwirklicht
ist, bleibt fraglich, ob sie tatsächlich das ersehnte Paradies
bringt. Das verdeutlicht schon der Untertitel von Le Guins Meisterwerk,
dem 1974 erschienen umfangreichen Romane
The Dispossessed:
An Ambiguous Utopia, zu Deutsch Eine zweideutige,
fragwürdige Utopie. Die einzigen Konstanten in Le Guins
Werk sind Balance und Veränderung. Alles fließt, nichts bleibt,
wie es ist, und so kann auch der in
The Dispossessed entworfene
utopische Idealstaat kein dauerhaftes Paradies bringen.
Einen deutlicheren Kommentar zum Krieg in Vietnam liefert die
1972 erstmals veröffentlichte Novelle
The Word for World is
Forest (dt:
Das Wort für Welt ist Wald), das allerdings
auch Parallelen zur Ausrottung der amerikanischen Ureinwohner,
der Indianer, durch weiße Siedler aufweist. Hier wird der Planet
New Tahiti von Menschen besiedelt, die die Ureinwohner geringschätzig
als Creechies bezeichnen. Die Creechies
blicken auf eine jahrtausendealte Kultur zurück, die kaum Fortschritt
und technologische Entwicklung kennt, deren Angehörige aber dafür
in tiefer Naturverbundenheit und Frieden in einem perfekten System
ökologischen Gleichgewichts leben. Die Friedfertigkeit der Creechies
resultiert daraus, daß es ihnen möglich ist, ihre Aggressionen
in Tagträumen abzureagieren. Als die Menschen allen Warnungen
zum Trotz damit beginnen, weiter Bereiche der Wälder abzuholzen,
wird das ökologische Gleichgewicht zerstört, die Ureinwohner verlieren
die Fähigkeit der Tagträume und lernen, zu töten.
Auch hier finden sich zentrale Metaphern Le Guins: Entfremdung
führt zu Gewalt, Irrsinn und blindwütigem Egoismus; Überleben
ist erst möglich, als die Menschen von ihrem egozentrischen Weltbild
abrücken und sich dem Fremden öffnen. Dies beinhaltet ebenfalls
eine klare Absage an das Christentum und die christliche Religion,
die mit ihrem Alleinigkeitsanspruch Leid über die Welt gebracht
hat. Religiöse und politische Systeme trennen; nur in ihrer Aufgabe,
der Abkehr von Dogmatismus, der Verschmelzung der Kulturen, liegt
das Heil.
The Word for World is Forest versinnbildlicht das taoistische
Prinzip des ziran, das Spontaneität, Ungebundenheit
und vor allem die Rückbesinnung auf die Natur beinhaltet. Zhuang
Zhou (ca. 370 ca. 300 v. Chr.), einer der bedeutendsten
Denker des Taoismus, formulierte in seinem Hauptwerk
Zhuangzi,
dem ersten überlieferten chinesischen Prosatext, das taoistische
Ideal des autonomen Lebens frei von allen Zwängen. Eine der Maximen
lautet, daß man weder im Denken, noch im praktischen Handeln oder
Herrschen den Dingen Gewalt antun darf, ein Prinzip, das die eingeborenen
Creechies in hohem Maße erfüllen. In der Betonung
von Gewaltfreiheit und Individualität ist auch eine gewisse Nähe
zu anarchistischen Idealvorstellungen gegeben, daher verwundert
es wenig, daß sich Le Guin in ihrem großen politischen Entwurf,
The Dispossessed, auch dieser Ideologie zuwandte.
Zuvor aber erschien ihr erstes, ebenfalls dem Hainish-Zyklus zugehöriges
reifes Meisterwerk, der Roman
The Left Hand of Darkness (1969; dt:
Winterplanet, auch:
Die linke Hand der Dunkelheit).
Neben politischen Fragen stehen hier auch erstmals feministische
Themen im Mittelpunkt der Handlung. In ihrem Essay Is Gender
Necessary? (dt: Brauchen wir das Geschlecht?)
schreibt die Autorin: Etwa im Jahr 1967 machte sich ein
gewisses Unbehagen bei mir bemerkbar (...) Ich wollte die Bedeutung
von Sexualität und Geschlecht in meinem Leben und in unserer Gesellschaft
definieren und verstehen lernen. (...) Aber ich war weder Theoretiker
noch politischer Denker, Aktivist oder Soziologe. Ich war und
bin eine Romanautorin. Meine Gedanken drückten sich in einem Roman
aus. Dieser Roman,
Der Winterplanet [sic!], ist die Niederschrift
meines Bewußtseins, mein lesbar gewordener Denkprozeß.
Auch in
The Left Hand of Darkness besucht ein Ethnologe,
Genly Ai, eine fremde Welt, den Planeten Gethen, um ihn der Liga
der Welten einzugliedern, und die Handlung des Buches folgt einem
vertrauten Grundmuster Le Guins, dem der Queste, der
Suche in einem Klima von Eis und Schnee. Drohte in
Planet of
Exile ein dreißigjähriger Winter, so herrscht auf Gethen ständig
Kälte, allerdings gibt es Anzeichen dafür, daß das Eis zu schmelzen
beginnt. Die Bewohner des Planeten sind androgyn; während einer
kurzen Phase sexueller Aktivität jeden Monat, kemmer
genannt, entscheidet sich, welcher der beiden Partner einer Beziehung
welches Geschlecht annimmt. Gether können Kinder ebenso als Mütter
zur Welt bringen wie als Väter zeugen einen direkten Einfluß
darauf, welches Geschlecht sie annehmen werden, haben sie nicht.
Die gesellschaftlichen Folgen dieser Androgynie sind, wie Pamela
J. Annas in ihrem Aufsatz New Worlds, New Words: Androgyny
in Feminist Science Fiction (dt: Neue Welten, neue
Worte: Androgynie in der Frauen-Science Fiction [in dem
Band
Feministische Utopien Aufbruch in die postpatriarchalische
Gesellschaft, Meitingen 1986] anmerkt, klar und deutlich herausgearbeitet:
Auf Winter gibt es keinen Krieg. Es gibt keine Arbeitsteilung
nach Geschlechtern, die ständige Rechtfertigung für solch eine
Aufteilung wird dadurch aufgehoben, daß jedes Individuum Kinder
gebären kann. Entscheidend für das politische System auf
Gethen oder Winter ist: In der Regierung besteht eine Balance
zwischen Hierarchie und Anarchie.
Gesellschaftliche wie individuelle Themen werden erschöpfend dargestellt.
Wie sehr wir in unserem Denken vom traditionellem Rollenverhalten
der Geschlechter geprägt sind, zeigt sich, als Ai gezwungen ist,
mit dem Eingeborenen Estraven den er als Mann wahrnimmt
eine lange Wanderung durch das ewige Eis des Planeten zu
unternehmen. Ais anfängliches Unvermögen, die Kultur des Planeten
zu verstehen, rührt teilweise daher, daß er die Bewohner wie auch
sich selbst unablässig in geschlechtsspezfischen Sichtweisen betrachtet,
während er für sie kein Mann, sondern nur ein Mensch ist.
Gethens öffentliches Leben wird von zwei Staatsformen bestimmt.
Orgoreyn ist ein Land mit einem sozialistischen System, Karhide
ein Königreich, das in seinem zunehmenden Zentralisierungsstreben
ein Wesensmerkmal, das der Staat mit dem Nachbarland Orgoreyn
teilt allmählich zur Diktatur wird. Herrschaft bedeutet
in beiden Staaten Unterdrückung des Individuums wie auch Unterdrückung
dynamischer sozialer Prozesse (wodurch den Dingen durch Herrschaft
Gewalt angetan wird, eine Verletzung des taoistischen Prinzips)
mit dem Ziel, statische politische und gesellschaftliche Gebilde
zu schaffen, die in Le Guins Weltsicht nicht überlebensfähig sind.
Dies ist eine Ansicht, die die Autorin interessanterweise mit
einigen Kollegen aus dem Science Fiction-Genre teilt. So sagte
Theodore Sturgeon schon 1980 in einem Interview mit Bjo Trimble:
Wenn Sie nach einer Grundwahrheit suchen, da gibt es nur
eine: Alles ist in Bewegung, im Wandel begriffen. (...) Bis zum
heutigen Tag haben wir ausschließlich versuchen können, eine Gesellschaft
statisch zu machen, das ist der Fehler bei allen Utopias; es erklärt,
warum sie immer zum Scheitern verurteilt waren, selbst in der
Literatur. (
Perry Rhodan Magazin, Nr. 9/1980).
Die klassische Utopie als Vision vom idealen Staate, sei sie christlich
geprägt wie Johann Valentin Andraes
Christianopolis (1619)
oder sozialistisch wie Edward Bellamys berühmtes
Looking Backward:
2000 1887 (1888), geht stets davon aus, daß ein gesellschaftlicher
wie politischer Idealzustand erreicht und Veränderung daher weder
notwendig noch wünschenswert ist. Diese Überzeugung läßt sich
mit Le Guins Weltsicht, wie sie sich in ihren Romanen und Erzählungen
präsentiert, kaum vereinbaren. Schon allein deshalb ist ihr großer
gesellschaftspolitischer Roman
The Dispossessed (dt:
Planet
der Habenichtse) bestenfalls ein fragwürdiges
Utopia und schon von der Konzeption her, wiewohl der klassischen
Sozialutopie des neunzehnten Jahrhunderts verhaftet, dem herkömmlichen
utopischen Entwurf diametral entgegengesetzt. Präsentiert uns
die klassische Utopie im Normalfall eine uns unbekannte Gesellschaft
durch die Augen eines vertrauten Beobachters mit unserem gesellschaftlichen
Hintergrund, beschreitet Ursula K. Le Guin den entgegengesetzten
Weg und präsentiert uns eine vertraute Gesellschaft durch die
Augen eines Fremden mit gänzlich andersartigem Hintergrund. Mit
The Dispossessed kehrt Le Guin von entlegenen Randbezirken
zurück ins Zentrum ihres Hainish-Universums der Roman steht
gewissermaßen am Beginn der internen Chronologie des Hainish-Zyklus
und erzählt, wie ein Physiker mit neuen mathematischen Ansätzen
die Erfindung des Ansible vorantreibt, einer überlichtschnellen
Kommunikationsmethode, die die Liga der Welten, auf der der gesamte
Zyklus basiert, überhaupt erst ermöglicht.
Im New York City born and raised, but nowadays Im
lost between two shores, singt Neil Diamond in einem seiner
Songs, dessen Inhalt vornehmlich um das Problem sozialer, kultureller
und persönlicher Entfremdung kreist, und ähnlich ergeht es dem
Physiker Shevek, dem Protagonisten von
The Dispossessed,
der seine Heimatwelt Anarres verläßt, die als Mond den Planeten
Urras umkreist, und nach Urras geht, um dort seine neuen mathematischen
Theorien in die Tat umzusetzen.
Nach einem Aufstand anarchistischer Kräfte auf Urras hat man den
Rebellen vor langer Zeit ermöglicht, auf den unfruchtbaren Mond
auszuwandern und dort eine Gesellschaft nach ihren Vorstellungen
aufzubauen, die weitgehend dem utopischen Idealbild entspricht,
das Kropotkin, der Vordenker der anarchistischen Bewegung, entworfen
hat. (Die Ereignisse, die zu diesem Aufstand führen, werden übrigens
in der preisgekrönten Kurzgeschichte The Day Before the
Revolution (1974, dt: Der Tag vor der Revolution)
geschildert.) Shevek fühlt sich in der Gesellschaft von Anarres
nicht heimisch, noch weniger aber im kapitalistischen System,
das ihm auf Urras begegnet und das in weiten Zügen unserer
eigenen Gesellschaftsform entspricht.
The Dispossessed stellt die klassische Frage, die den Kern
einer jeden utopischen Literatur bildet: Welches ist das Höchstmaß
an individueller Freiheit, das sich noch mit einer gesellschaftlichen
Ordnung vereinbaren läßt? Bequeme Lösungen bietet die Autorin
freilich nicht: Weder die anarchistische Gesellschaft auf Urras
noch die kapitalistische auf Anarres sind in ihrem Wesen totalitär.
Beide basieren auf einem gewissen Grundbedürfnis nach Freiheit
des Individuums. Urras ist kapitalistisch, aber der entfesselte
Kapitalismus unserer Welt wird nicht geduldet. Ganz ohne Reglementierung
kommt hingegen auch die herrschaftsfreie Gesellschaft auf Urras
nicht aus. Und somit sind sich die beiden Systeme ähnlich und
doch grundverschieden, nahe und doch durch Welten voneinander
getrennt.
Eine simple Botschaft bietet der Roman nicht, was nicht heißen
soll, daß er keine enthält. Zwei verschiedene politische Systeme
werden gegeneinander abgewogen, und auch wenn die Verfasserin
erkennen läßt, daß sie dem romantisch verklärten Anarchismus auf
Urras den Vorzug gibt, entscheidet sie sich nicht für eine Gesellschaftsform,
sondern überläßt es dem Leser, zu eigenen Schlußfolgerungen zu
kommen.
Es ist interessant, eine Brücke zu schlagen von diesem explizit
politischen Hauptwerk zu einer jüngeren Kurzgeschichte, doch zuvor
gilt es, eine letzte Metapher zu verdeutlichen, die in Le Guins
Werk ebenfalls immer wiederkehrt, die der Grenze bzw. der Grenzüberschreitung.
Grenzen werden in Le Guins Romanen und Erzählungen immer wieder
überschritten, und diese Grenzübertritte sind (von einer bemerkenwerten
Ausnahme abgesehen), nicht reversibel. Die verlorene Unschuld
der Kindheit kann niemals wiedererlangt werden; geschehenes Unrecht
läßt sich sühnen, niemals ungeschehen machen. Als Shevek sich
entschließt, Anarres zu verlassen und nach Urras zu gehen, wird
er zum Ausgestoßenen seines eigenen Volkes; sein Aufenthalt auf
Urras wird ihn für immer verändern. Die Menschen in
The Word
for World Is Forest können um Vergebung für das Unrecht bitten,
das sie den Eingeborenen antun, aber was geschehen ist, läßt sich
niemals ungeschehen machen.
Die bemerkenswerte Ausnahme von dieser Regel ist die Kurzgeschichte
Another Story or A Fisherman of the Inland Sea (1994;
dt: Eine andere Geschichte oder Ein Fischer des Binnenmeeres).
Hier geht es um das Schicksal von Tiokunann Hideo vom Planeten
O, der (wie Shevek) seiner Heimat den Rücken kehrt, um an der
Verwirklichung einer bemerkenswerten Erfindung mitzuwirken. Tiokunann
reist nach Hain, wo nach einer Möglichkeit geforscht wird, in
Nullzeit durch den Raum zu reisen, was das Netz der Welten weiter
zusammenschweißen und das Problem der Zeitdilatation beim Flug
nahe Lichtgeschwindigkeit aus der Welt schaffen würde. Tiokunann
trifft seine Entscheidung: Er läßt seine Geliebte, seine Familie
und seine Freunde auf der ländlichen und idyllischen Welt zurück,
aus der er kommt, besucht sie aber in regelmäßigen Abständen und
sieht die Auswirkungen, die sein Entschluß auf andere gehabt hat
seine Jugendliebe, seine Mutter, die einst aus Liebe zu
seinem Vater alles aufgegeben hat. Anders als die Protagonisten
früherer Romane und Erzählungen von Ursula Le Guin bekommt er
jedoch die Chance, das Geschehene ungeschehen zu machen, denn
als er sich selbst freiwillig für ein Experiment mit der zeitlosen
Reise durch den Raum macht, erreicht er zwar sein Ziel, seinen
Heimatplaneten O, aber er wurde zehn Jahre in die Vergangenheit
zurückversetzt, an den Tag vor seinem Aufbruch. Mit Wissen um
die Zukunft überdenkt er seine Entscheidung neu und beschließt,
seine Welt nicht zu verlassen, seine Jugendliebe zu heiraten und
eine Familie zu gründen.
Setzt man sie in direkte Relation zu
The Dispossessed,
bietet auch die Geschichte Another Story zwei Interpretationsmöglichkeiten,
eine hoffnungsvolle und eine resignierte: Nach der politischen
Aufbruchstimmung Ende der sechziger Jahre (von denen
The Left
Hand of Darkness und
The Dispossessed in hohem Maße
geprägt sind), kommt die bittere Erkenntnis vom Ende der Utopien:
Gesellschaftliche Veränderung läßt sich auf breiter Ebene nicht
herbeiführen; auf diese Erkenntnis folgt der Rückzug ins Private.
Man könnte versucht sein, das als simple Schuster, bleib
bei deinen Leisten oder Begnüge dich mit deinem Platz-Moral
abzutun, aber diese kurzsichtige Schlußfolgerung wäre irrig: Möglicherweise
ist das Private ja gerade der erste Schritt, die Verwirklichung
der Utopie auch auf gesellschaftlicher Basis zu beginnen. Die
andere Interpretationsmöglichkeit (die auch keineswegs im Widerspruch
mit den Kernaussagen früherer Werke steht), wäre die, daß gesellschaftliches
Glück stets mit individuellem Glück beginnt, Tiokunanns
Rückzug also im übertragenen Sinne nicht auf Resignation hinauslaufen
muß, sondern im Gegenteil, in sich den Keim der Hoffnung auf ein
besseres Leben und eine bessere Welt trägt.
Neben diesen Hauptströmen ist immer wieder die Beschäftigung mit
Linguistik und Sprache ein Thema, das in vielen Erzählungen und
Romanen der Autorin anklingt. So etwa in der Kurzgeschichte The
Shobies Story (dt: Die Geschichte der Shobies).
Hier wird eine neue Methode der interstellaren Reise in Nullzeit
erprobt, doch das Erlebnis zertrümmert die gemeinsame Wahrnehmung
der Beteiligten, die sich fortan rätselhaften Phänomenen ausgesetzt
sehen und die Welt und Wirklichkeit unterschiedlich wahrnehmen.
Ein Ausweg bietet sich erst, als sich alle gemeinsam zusammensetzen
und sich erzählend die Welt neu erschaffen. Die Story greift die
in der Philosophie häufig gestellte Frage auf, inwieweit die Sprache
unsere Wahrnehmung und damit die Realität selbst formt und bestimmt.
In The Shobies Story haben wir es mit einer
ganzen Welt als Wille und Vorstellung zu tun, deren
Konstante der sprachliche und interpretatorische Konsens ist,
auf den sich die Mehrzahl der Wahrnehmenden geeignigt haben und
einigen können.
Daß Sprache aus diesem Grund schon das perfekte Mittel der Manipulation
ist, hat schon George Orwell in seiner berühmten Dystopie
1984 gezeigt. Dies bildet auch das zentrale Problem im bislang letzten
Beitrag zum Hainish-Zyklus, dem Roman
The Telling (2000, dt:
Die Erzähler), dessen
Struktur sehr den früheren Romanen ähnelt: Auch hier reist eine
Forscherin der Ökumene der Welten zu einem neu in den Bund aufgenommenen
Planeten. Ein neuer Staat ist hier entstanden, der die alte Kultur
der Welt verdrängt und verboten hat. Die Protagonistin unternimmt
eine Reise und begegnet in einer entlegenen Bergregion Rebellen,
die die alte Kultur allein durch die Kunst des telling,
des Erzählens, am Leben halten. Sprache ist für Orwell ausschließlich
ein Instrument der Manipulation und Unterdrückung, Ursula Le Guin
hingegen zeigt einmal mehr die Ambivalenz, indem sie, wie in
The
Dispossessed, zwei Positionen gegeneinander abwägt: Sprache
als Instrument der Manipulation in Form der Propaganda des totalitären
Regimes, die an jeder Straßenecke aus Lautsprechern plärrt einerseits;
Sprache als Träger von Informationen, die andernfalls verloren
gingen und eine ganze untergegangene Kultur am Leben erhalten
können andererseits. Und so wird dem Geschichtenerzählen eine
eine und enorme Bedeutung beigemessen: Geschichten helfen uns,
das Leben und den Sinn menschlicher Existenz auszuloten und zu
verstehen. Erzählend die Welt begreifen, deuten und formen, das
mag durchaus die Hauptaufgabe des Schriftstellers und Erzählers
sein besonders des Science Fiction-Autors.
Trotz aller gedanklichen Tiefe und aller Denkansätze, trotz aller
Fülle von Themen und Aspekten, über die sich nachzudenken lohnt,
bleibt aber letztendlich eines übrig diesbezüglich muß
man der Autorin recht geben, und damit schließt sich der Kreis
dieser kurzen Studie und wir kehren an den Anfang zurück: Geschichten.
Ob mit einer Botschaft oder ohne, bleibt letztendlich dem individuellen
Leser überlassen. Geschichten sind unsere einzigen Boote,
um auf dem Strom der Zeit zu segeln, schreibt Tiokunann
Hideo im Bericht über seinen Zeitsprung an die Verantwortlichen
auf Hain. Ursula Le Guins Geschichten sind Boote von Meisterhand.
Ihr Hauptverdienst besteht in jedem Falle darin, daß sie keine
trockenen didaktischen Traktate liefert, sondern sich in erster
Linie von ihrer Lust am Fabulieren leiten läßt. In ihren besten
Texten verschmelzen eine Sprache von schlichter Schönheit, Metaphernreichtum,
Inhalt und Form zu einem Ganzen, wie es in der Science Fiction
kaum seinesgleichen hat.
Copyright © 2002 by Joachim Körber